Akte R - Bild 01

AKTE R

von Mirko Böttcher | Schlosstheater Celle 2009

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Besetzung

Jürgen Kaczmarek, Ronald Schober, Alfred Sieling

Team

Ausstattung: Anna Kirschstein
Inszenierung: Julia Heymann
Fotos: Jochen Quast

Kritiken

Cellesche Zeitung | 19.10.2009 | von Jörg Worat

Liebe zu Wessi wird zum Höllentrip

Lust auf eine gemütliche Theaterstunde? Dann bitte auf keinen Fall zu „Akte R“ in den Malersaal des Schlosstheaters gehen – denn die Premiere von Mirko Böttchers Stück warf einen tiefschwarzen Blick auf ein Schicksal in der DDR.

Zwanzig Jahre ist es her, dass die Mauer fiel. Schon wird zuweilen, mal mehr und mal weniger heimlich, so etwas wie eine Sehnsucht nach alten DDR-Zeiten geäußert. Weit entfernt von jeder Verklärung ist indes Mirko Böttchers Theaterstück „Akte R“. Die Besucher der Premiere im Malersaal bekamen schwere Kost serviert.

Hauptfigur ist der Ostberliner Teenager Marko Rohrbach, ein unbedarfter Kellner, schwer in einen Staatssekretär aus dem Westen verknallt. Das weckt das Interesse der Stasi. Marko weigert sich jedoch, den Geliebten zu bespitzeln. Auftakt zu einem Höllentrip: Erst bekommt der Junge immer mehr Ärger am Arbeitsplatz, und nach einem Fluchtversuch gehen die Lichter endgültig aus – im Gefängnis ist Marko hilflos der Willkür der Verhör-Offiziere ausgeliefert.

Ein Stück nach einer authentischen Geschichte, bei dessen Umsetzung Regisseurin Julia Heymann sich eine ganze Menge hat einfallen lassen. Sie setzt sehr auf das theatrale Moment, das dem etwas plakativen Originaltext in der Tat zuweilen fehlt, und geht dabei recht weit. So muss man mit überspitzten Gefühlsäußerungen der Figuren rechnen. Auch kommt es zu Verfremdungen – ein Kontaktoffizier zieht etwa beim Versuch, Marko mit der Aussicht auf einen Trabbi zu ködern, plötzlich ein Spielzeugauto hervor. Und der geliebte Staatssekretär diskutiert zwar mit dem Freund über die Flucht, Gestik und Tonfall entsprechen dabei aber eher dem hohlen Pathos bei gewissen Politikerreden.

Die Regieeinfälle zünden unterschiedlich gut. Manchmal sind sie brillant. Geschickt wird beispielsweise der Abschied vom Geliebten mit dem Auftritt des Kontaktoffiziers zusammengeschnitten. Und wenn die beiden Vernehmer plötzlich Stasi-Lieder singen, in denen sie beklagen, dass so wenig Zeit für den Aufenthalt zuhause wie auch für das Tragen der Orden bleibe, wirkt das ebenso bizarr wie monströs. Die ursprünglich getrennten Verhörszenen hat Heymann komplett zusammengelegt und somit stark verdichtet. Mit äußerst fiesen Momenten, obwohl es gar nicht zu Exzessen körperlicher Gewalt kommt. Die Vorstellung dauert nur eine knappe Stunde, wirkt aber länger – durch die beachtliche Intensität. Ronald Schober schont sich in der Darstellung des Marko nicht eine Sekunde. Diese Verzweiflung geht kräftig an die Nieren, wenngleich Schober manchmal Manierismen in Gestik und Mimik entwickelt. Alfred Sieling und Jürgen Kaczmarek spielen ihre Mehrfachrollen konsequent und stimmig.

Das Stück endet mit Marko Rohrbachs Ausreise in den Westen, wo „alles nach Lenor riecht“. Und er in seinem neuen Job als Zigarrenverkäufer plötzlich dem einstigen Vernehmer gegenübersteht. Mario Röllig, das reale Vorbild für die Figur des Marko, erzählte dem Premierenpublikum nach der Vorstellung von diesen und anderen Lebenssituationen. Und es wurde deutlich, wie die Vergangenheit nachwirkt. Vor allem in Sachen Vertrauen tut sich Röllig manchmal immer noch sehr schwer. Verständlich, hat er in den 2000 Seiten seiner Stasi-Akte doch Aussagen des ehemaligen Chefs, zweier Arbeitskollegen und eines vermeintlich sehr guten Freundes gefunden.

Rölligs Auftritt war eine einmalige Angelegenheit. Der Besuch künftiger Vorstellungen lohnt sich gleichwohl – vorausgesetzt, man ist offen für das Unbequeme.
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Braunschweiger Zeitung | 02.11.2009 | von Andreas Berger

Die Stimmen der Vergangenheit – Mirko Böttchers authentisches Stasi-Stück "Akte R" im Schlosstheater Celle

Den Fall hielte man in der Literatur für überkonstruiert, doch er ist Wirklichkeit: Marko, Kellner aus der DDR, verliebt sich im Urlaub im sozialistischen Bruderstaat Ungarn in einen westdeutschen Staatssekretär. Die Stasi will ihn als Spitzel ansetzen, doch er weigert sich: 'Ich bin verliebt!'

Aber Liebe zählt nicht, wenn die Partei ruft. Als die Schikanen zu schlimm werden, will er blauäugig über die grüne Grenze fliehen, wird natürlich geschnappt und in Hohenschönhausen inhaftiert. Psychoterror, Ungewissheit. Doch man kauft ihn frei. Endlich im Westen, unbegrenzte Freiheit! Doch der Staatssekretär ist verheiratet, traut sich nicht, seine Homosexualität zu leben. Und nach der Wende steht plötzlich Markos Peiniger aus dem Gefängnis im Laden, bereits wieder sehr gut bei Kasse!

Julia Heymann hat Mirko Böttchers Szenenfolge für den Malersaal des Schlosstheaters Celle aufgelöst in eine Collage unbewältigter Erinnerungen. Ausgehend von der Szene, in der Marko die Stimme des Stasi-Offiziers wiederhört, drängen all die Klänge und Stimmen der Vergangenheit wieder auf ihn ein. Heymann setzt sie fast choreographisch um in Bewegungen, schleudert die Beteiligten immer wieder raus aus der realistischen Spielszene in expressive Haltungen, in denen sie ihre Emotion einholt. Packend gelingt das besonders dem Braunschweiger Schauspieler Ronald Schober in der Rolle des Marko. Der erotische Unterton des ersten Wortgeplänkels mit dem westdeutschen Freund manifestiert sich als körperlicher Akt, Stöhnen und Flüstern geben den Sound.

Beim Grenzübertritt rascheln die Kollegen mit den Zweigen, zwischen den Verhören in der Stasi-Zelle singen sie leise die offiziellen Kampflieder von einst, was einen bedrohlichen Klangraum ergibt.

Auch die Folter wird subtil erspielt. Immer schneller muss Marko die willkürliche Abfolge von Melden, Liegen, Strammstehen aufsagen, kein Halt in Sicht, hilflos ausgeliefert den Schikanen der Stasi-Beamten – "keiner weiß, dass Sie hier sind, wir können mit Ihnen machen, was wir wollen." Wie Schober die Stimmungsumbrüche, Qualen und Hoffnungen, das Verliebtsein und das Erschrecken spielt, geht unter die Haut. Gegenüber der Selbstsicherheit des Wendehalses ist er wiederum hilflos. Jürgen Kaczmarek spielt diesen Beamten mit der weichen Tour in schöner Sonorität, eine perfide Freundlichkeit, die erst recht schaudern macht. Alfred Sieling bringt als Staatssekretär nicht die Attraktivität mit, die seine Ausstrahlung auf Marko glaubhaft machen würde. Doch den fiesen Beamten gibt er mit überzeugender Bedrohlichkeit.

Ein verstörendes Stück, bedrückend umgesetzt. Und leider wahr.
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