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Familienschlager

von Erik Gedeon | Staatstheater Kassel 2008

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Besetzung

Agnes Mann, Samantha Richter, Christina Weiser, Hannes Fischer,
Matthias Flake, Uwe Rohbeck, Thomas Sprekelsen, Frank Watzke

Team

Musikalische Leitung: Matthias Flake
Ausstattung: Sabine Böing
Choreographische Mitarbeit: Benjamin Block
Inszenierung: Julia Heymann

Kritiken

Gießener Allgemeine | 30.04.2008 | von Susann Adam

Liebestränke mit Verwöhnaroma

Sehnsüchte: wie lange gibt es sie schon? Sie gehören dazu, Sehnsüchte lassen träumen, hoffen und wollen erfüllt werden. Ganz unterschiedliche Sehnsüchte stehen in den neuen Produktionen »Familienschlager« und »Der Liebestrank« am Staatstheater Kassel im Mittelpunkt. Äußerst unterhaltsam sind sie beide.

Wie man mit Liedern Diktaturen stürzen kann, bewies das estnische Volk Anfang der 90er Jahre. Wie man mit Liedern und fast ohne Sprechtext einen ganzen Theaterabend gestalten und dabei das Ende der innerdeutsche Teilung schildern kann, zeigt »Familienschlager«, die »musikalische Wiedervereinigung« von Erik Gedeon im Schauspielhaus.

Dabei steht nicht die Wende im Mittelpunkt dieser Revue, sondern der Weg dahin. Ohne Montagsdemos, sondern allein durch Lieder in den Wohnzimmern zweier deutscher Familien. Die heißen Müller - wie sonst? Und um der besseren Unterscheidung willen Ostmüller und Westmüller. Die beiden Familien haben viel mehr gemeinsam, als auf den 1. Blick zu sehen ist. Gruppiert zum Familienfoto sitzen sie da vor der Fototapete: hüben mit Reihenhäusern und startendem Jumbo neben der Bounty-Orangen-Bananenpalme, drüben vorm Plattenbau mit roter Fahne (Ausstattung: Sabine Böing), der Stacheldraht geht mitten durch. Die einen adrett mit Fliegeruniform (Andreas Beck als Herr Westmüller), Seidenbluse (Christina Weiser als Frau Westmüller), gelbem Sweatshirt (Matthias Flake als Klaus Westmüller) und aufmüpfig mit Punkoutfit (Agnes Mann als Sabine Westmüller), die anderen in Bauarbeiterkluft (Uwe Rohbeck als Herr Ostmüller), Kittelschürze (Hannes Fischer), Grenzwächteruniform (Thomas Sprekelsen) und FDJ-Bluse (Samantha Richter als Peggy Ostmüller). Alle blicken sie in die Ferne und träumen von Dingen, die sie bestenfalls in ihren Liedern zu finden hoffen. Schlager im Westen, am Flügel untermalt von Klaus Westmüller (Matthias Flake, auch zuständig für die musikalische Einstudierung), Arbeiterkampflieder im Osten, schmissig auf der Gitarre begleitet vom Vater Ostmüller. Dazwischen jede Menge Klischees: vom Verwöhnaroma über porentief reine Hausfrauen am Staubsauger mit »Prinzenrolle« und »Asbach Uralt«, geprägt vom Konsum, im Westen bis hin zum »Neues Deutschland« lesenden Kämpfer für »Frieden und Sozialismus« an der Seite einer anabolikagestählten Olympionikin, die ihren Platz am Herd gefunden hat (umwerfend komisch als Ostmutti: Hannes Fischer) im Osten.

Die Lieder dazwischen passen zu jeder Lebenslage und transportieren die Befindlichkeiten der Beteiligten. Für eine Suche unter der Oberfläche bleibt bei diesem betont heiteren, bisweilen umwerfend komischen Abend wenig Zeit. Trotzdem: wenn der Liederreigen nicht ins Seichte abgleitet, so liegt das in dieser Inszenierung von Julia Heymann an den Zwischentönen in den Gesten, Mienen, der Ironie der Songs. »Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn« prophezeit der namenlose Wanderer (Frank Watzke), der Erich Honecker sehr ähnelt. Er darf in den Westen, wird wieder zurück geschickt und beim unerlaubten Grenzübertritt erschossen. Das ist einer der Momente, wo die Komik Pause hat. Gesteigert wird er durch das Auftreten des Grenzers Ronny Ostmüller (Thomas Sprekelsen), der weinerlich »Über sieben Brücken musst du gehen« anstimmt und anschließend seiner »Katjuscha« eine Liebeserklärung macht. Zu dem Waffengesang finden im Hintergrund Verbrüderungsszenen zwischen Wachturm, Flügel und Grenzzaun statt. Die Müllers treffen sich im Wohnzimmer West und sind eine Familie: »We are the world«, ganz global ausgerichtet mit Blick auf die Zukunft.
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Göttinger Tageblatt | 28.04.2008 | Peter Krüger-Lenz

Premiere am Staatstheater Kassel: „Familienschlager – musikalische Wiedervereiniung“

Die eine Familie heißt Westmüller, die andere Ostmüller. Das klärt eigentlich schon die Richtung der Inszenierung „Familienschlager“, die am Freitag im Staatstheater Kassel Premiere hatte. Regisseurin Julia Heymann hat eine Klischeeklamotte auf die Bühne gezaubert – auf hohem Niveau.

Genau so lebten die Mittel-schicht-Familien, als die Mauer noch stand. Zumin-dest im statistischen Mittel. Mehr oder minder glücklich verheiratet, zwei Kinder, die in der Pubertät zicken, in der BRD etwas mehr als in der DDR. Man hat sich hier wie da eingerichtet. Hüben wohnt man gerne im Grünen zwischen Einfamilienhäusern, drüben schaute man aus dem Fenster der Mietwohnung auf Plattenbau. Genau so hat Sabine Böing die Bühne entworfen und zwischen beiden Heimstätten einen Grenzstreifen mit Stacheldraht und Wachturm aufgebaut. Das alles passt tatsächlich auf die nicht eben große Bühne im Kasseler Staatstheater. Und dort spielt sich über eineinhalb Stunden ein schräger Sängerstreit ab.

Die Handlung wird getragen von Liedern aus Pop, Rock, Schlager und Politik. Natürlich werden die Hymnen der beiden Deutschen Staaten intoniert. Klar spielen DDR-Rock und Neue Deutsche Welle eine wesentliche Rolle. Die Löcher fliegen aus dem Käse, weil gleich die Polonaise beginnt. Über sieben Brücken müssen sie gehen, aber niemals auseinander. Verblüffend, wie Unterhaltungsmusikgeschichte Zeitgeschehen abbildet, wenn man denn an den richtigen Stellen sucht. Und das hat Autor Erik Gedeon mit viel Sachverstand getan.

Genialer Kunstgriff - Dazu tragen allerdings auch die Akteure auf der Bühne bei. Andreas Beck beispielsweise gibt ganz wunderbar den Piloten und Familienvater Westmüller, der seinen Weinbrand lieber ohne Frau Westmüller (perfektes Hausfrauenklischee: Christina Weiser) genießen würde. Beck singt prächtig – auch mit etwas angeschlagener Stimme. Die Tochter der Westmüllers wird von Agnes Mann mit viel Dampf und Stimme punkig gespielt. Im Osten geht's etwas weni-ger bunt zu, aber sportlich. Dafür sorgt Frau Ostmüller als Ex-Leistungssportlerin. Besetzt ist diese Rolle mit Hannes Fischer, ein geradezu genialer Kunstgriff. Der zeigt mit Socken in den Badelatschen viel Herz. Sängerisch setzt Uwe Rohbeck als Herr Ostmüller Glanzlichter und die Herzen fliegen Frank Watzke zu, der zwischen den Welten wandert.

Ein herrlich unterhaltsamer Abend, der ruhig auch länger hätte dauern können. Doch dann hätte das begeisterte Publikum sicher irgendwann mit eingestimmt.
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HNA | 28.04.2008 | von Verena Joos

Ein Lied muss keine Brücke sein - Die fulminante Ost-West-Revue "Familienschlager" hatte im Kasseler Schauspielhaus

Als 1960 "Wir wollen niemals auseinandergehn" Heidi Brühls Berühmtheit zementierte, stand die Mauer noch nicht. Erik Gedeon, Autor der Revue "Familienschlager", hat das Treuebekenntnis ins Politische umgedeutet und zum Rahmen seiner "Musikalischen Wiedervereinigung" (Untertitel) erkoren, die im Kasseler Schauspielhaus Premiere hatte.

Da sitzen sie in ihren regimetypisch möblierten Wohnzimmern (Ausstattung: Sabine Böing): Links die Westmüllers auf der Designercouch, rechts, auf Plaste-und-Elaste-Sofa, die Ostmüllers. Dazwischen: der Eiserne Vorhang. "Wir wollen niemals auseinandergehn", singen sie, träumerisch, marschmäßig auftrumpfend, verstummend, denn: Sie sind ja auseinandergegangen (worden).

Bühnenzeit: 80er-Jahre. Westmüllers halten Ostmüllers die Annehmlichkeiten des Kapitalismus vor die Nase, jene kontern mit der Demonstration sozialistischer Solidarität. Wenn Argumente fehlen, stellt ein Lied sich ein. Sie singen umwerfend gut, hier wie dort, solo wie im Chor. Frau Westmüller (Christina Weiser) Borderlinerin mit Wencke-Myhre-Frisur, trifft passgenau den angerauten Diseusenton. Ihr Gatte (Andreas Beck), Flugkapitän mit Machoallüren und Hang zur Cholerik, ist ein stimmliches Chamäleon, dem weder Grönemeyer noch Lindenberg die Butter von der Schrippe nehmen können. Sohn Klaus (Matthias Flake, auch musikalische Einstudierung), ist Spezialist für die weich gespülten Hitparaden-Nummern, während Tochter Sabine (Agnes Mann), Punkerin, in puncto Temperament und Rock-Röhre die ewig junge Nina Hagen alt aussehen lässt.

Mutter Ostmüller (Hannes Fischer, eine Travestieleistung der dritten Art!), Matrone zwischen Militanz und Melancholie, hält, auch stimmlich, die Fahne hoch. Vater Ostmüller (Uwe Rohbeck) ist zartgliedriger Bilderbuch-Proletarier mit betörendem Bariton-Schmelz, Sprössling Ronny (Thomas Sprekelsen), Grenzer, singt "Sieben Brücken" wenigstens doppelt so anrührend wie "Karat", Nesthäkchen Peggy (Samantha Richter), sympathisch naive Jungpionierin, kündet mit lupenreinem Sopran von der Utopie der klassenlosen Gesellschaft. Dann ist da noch der "Wanderer" (Frank Watzke), eine alterslose, magisch androgyne, von Ost nach West irrlichternde Figur, deren Zarah-Leanderhaft vorgetragene naive Wundergläubigkeit eindringlicher wirkt als sämtliche Pointen zum Vereinigungsprozess zusammen. Der hinreißend starke Abend, Verdienst der Regisseurin Julia Heymann, wurde mit überschäumendem Jubel quittiert.
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Kulturmagazin | 26.05.2008 | von Bettina Damaris Lange

Treffen sich zwei Welten - Eine musikalische Revue zurück in die jüngste deutsch-deutsche Vergangenheit. Pointiert, witzig, agil!

In der Mitte der Bühne ein beleuchteter Stacheldrahtzaun. Auf der einen Seite Ein-Familienhausidylle inklusive Bananenpalme, auf der anderen Seite rot beflaggter Plattenbau. Während Familie Ostmüller voll trotzendem Pioniergeist ihrer Zukunft entgegen marschiert, langweilt sich Familie Westmüller bequem auf dem Sofa zu Verwöhnaroma und Doppelkeks. Was einst geteiltes Land war, wird in der musikalischen Wiedervereinigung von Erik Gedeon zunächst noch einmal geteilte Bühne: die 80er Jahre Deutschlands - kompakt wie nie zuvor.

Da ist Vater Westmüller (Andreas Beck), selbstverliebter Patriarch, seines Zeichens natürlich Pilot. Geld scheint er seiner Familie mehr als genug zu bescheren, Konsumartikel für jede Lebenslage befinden sich grundsätzlich in Reichweite. Dass er sich dafür den Namen seiner Tochter (Agnes Mann) nicht merken kann, nimmt er selbst zumindest in Kauf. Die befindet sich als Punkerin sowieso in Protesthaltung, während Bruder Klaus (Matthias Flake) als artiger Klavierspieler auf dem Yamaha-Flügel sämtliche ldealvorstellungen seiner Mutter (Christina Weiser) erfüllt. Die wiederum hat nicht allzu viel Lebensinhalt, dafür aber Prinzenrolle und Jacobs Krönung.

Zwischen Kittelschürzeund Hammerwerfen - Was Familie Westmüller an Genuss im Überluss hat, hält Familie Ostmüller an Ideologiebereit. Tochter Peggy (Samantha Richter) ist die jugendliche Hoffnungsträgerin des Systems, während Sohn Ronny (Thomas Sprekelsen) die Grenze vor kapitalistischen Übergriffen bewahrt. Vati Ostmüller (Uwe Rohbeck) ist fleißiger Arbeiter, während Mutti (Hannes Fischer), mehr Mannweib als Weib, in klassischer Kittelschürze Topfdeckel poliert und Zwiebackkrumen verteilt, wenn sie nicht gerade athletische Höchstleistungen in Sachen Hammerwerfen vollbringt. Was den Westmüllers der Flügel, ist den Ostmüllers die Gitarre, was den Wessis der Genuss, ist den Ossis der Pioniergeist. Die Grenze ist dicht und doch hören die einen von den anderen, ein Konkurrenzkampf um das bessere Leben entbrennt. Wenn Familie Westmüller ihren de Beukelaer Keks zerbricht, weiß Peggy mit Engelsstimme „Unsere Heimat" zu verteidigen. Stößt Vater Westmüller mit Sekt an, schmettern die Ossis „VöIker hört die Signale". Doch die Grenze wird brüchig. Onkel Ludwig (Franz Watzke), schon lange mit dem Westen liebäugelnd, darf als Pensionär endlich den Westen bereisen und überquert feierlich, mit erzgebirgischem Schwippbogen unter dem Arm, die Grenze. Tochter Peggy hat sich in den artigen West-Klaus verliebt und so nimmt das Schicksal seinen bekannten Lauf. Nachdem Ronny noch einmal alles in Sachen Idealismus gegeben hat und im Zuge dessen Onkel Ludwig als Westverliebte Grenzgänger bei seinen Fluchtversuchen erschießt, bröckelt die Mauer. Mit Reinhard Meys „Über den Wolken" liegen sich die Familien schließlich in den Armen.

Voller Highlights - Julia Heymann trifft mit ihrer Inszenierung den Nerv des Publikums. Dem Ensemble wird nicht nur ein tosender Applaus beschert, Standing Ovations honorieren einen Theaterabend, bei dem einfach alles stimmt. Mit viel Fingerspitzengefühl und perfektem Blick für Details bringt sie die ost-westdeutsche Stimmung der 8Oer Jahre auf den Punkt. Was sie erzählt, kennen die Menschen, die dazu gehörigen Lieder, die Atmosphäre. Die agierenden Schauspieler füllen ihre Rollen nicht nur großartig, sondern berühren mit glasklaren und originellen Stimmen. Besonders deutlich wird dies an einem der Highlights des Abends, wenn die Familien gemeinsam „We are the world" zum Besten geben, so gut, dass der Song neben zwei weiteren Zugaben ein zweites Mal gesungen wird. Julia Heymann und ihrem Ensemble ist eine Inszenierung auf sehr hohem Niveau gelungen, eine musikalisch wie schauspielerische Glanzleistung.

Für das Publikum ein unvergesslicher Abend. Sehr empfehlenswert!
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