Schreie und Flüstern - Bild 01

Schreie und Flüstern

von Ingmar Bergma | Saalbau Neukölln 2004

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Besetzung

Elisa Gelewski , Irene Jacoba Holzfurtner , Helen Kurkjian, Tina Zaman,
David Bredin , Nicolai Borger, Rüdiger Walter Kunze

Team

Bühne: Julia Heymann
Ausführung: Jaroslaw Broitman
Kostüme: Holger Schwarting
Inszenierung: Julia Heymann

Kritiken

Berliner Zeitung | 28.11.2003

SAALBAU NEUKÖLLN Filme auf dem Theater: "No. 13 Schreie und Flüstern" nach Ingmar Bergman – Ein Knäuel aus Lügen

Das Schauspiel Neukölln hat sich in seinen letzten Produktionen bemüht, ein Knäuel Fragen zu entwirren, die das Leben in unserer bedrohten Zivilisation aufwirft. Die Diagnose ergab: die Bedrohung kommt von innen. In "No. 11 Dekalog" suchten wir nach den Resten verantwortlichen Handelns in einer Welt ohne Meta-Erzählungen, ohne den verbindlichen Bezugsrahmen, den die Religion jahrhundertelang gestiftet hat. Sind wir noch gesellschaftsfähig?

Die Probe aufs Exempel machten wir mit einem Stück nach Roman Polanskis "Cul-de-Sac", unserer zwölften Produktion. Die Freunde schwarzen Humors kamen auf ihre Kosten - und landeten wie die Protagonisten in der Sackgasse. Im Eskapismus liegt kein Heil. Wo dann? In unserer neuesten Produktion, "No. 13 Schreie und Flüstern" nach Ingmar Bergman ist der Blick auf die "Keimzelle" der Gesellschaft gerichtet - auf eine Familie als Versuchsanordnung. Wir sind innen angekommen, da, wo der Krankheitsherd sein muss.

Agnes leidet unheilbar an Krebs. Ihre Schwestern kommen mit ihren Männern in das Haus der gemeinsam verbrachten Kindheit. Hier lebt Agnes zurückgezogen mit Anna, dem Dienstmädchen, von dem sie hingebungsvoll gepflegt wird. Mit Agnes Krankheit und Tod zerbricht die fragile Statik der Konventionen, innerhalb derer sich die Schwestern bewegten: "Es ist nur ein Knäuel von Lügen." Die Extremsituation erzwingt eine Nähe, die die psychischen und sozialen Deformationen der (gesunden) Handelnden überdeutlich hervortreten lässt.

Das Schauspiel Neukölln folgt der Einladung Bergmans, "frei über das Material zu verfügen, das ich bereitstelle". Die Frauen entkommen bei Julia Heymann nicht den Gewalten, die als Denk- und Verhaltensnormen, Moralbegriffe, Ideologie oder Glaubensdogmen gesellschaftlich festgeschrieben sind. Die Menschen sind gefangen in ihrer Einsamkeit. Ein Ausbruch kann nur erträumt werden.

Mit außerordentlichem Gespür für die inneren Zustände ihrer Protagonisten entwirrt Heymann das Knäuel aus Lügen. Das Schauspiel Neukölln verzichtet auf die besinnliche Variante der "Vorweihnachtsfamilienstimmung" - unsere Diagnose der Gesellschaft lässt ein Fest der Nächstenliebe, des Eingedenkens und des Mitgefühls allenfalls als Utopie erscheinen.
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Neues Deutschland | 23.12.2003 | von Robert Meyer 

Eiseskälte friert alle Gefühle ein – Saalbau Neukölln zeigt »No.13: Schreie und Flüstern« nach Bergman 

Kurz, heftig, intensiv und sehr gut gespielt! Man kommt sich vor wie in einem Versuchslabor für das Abtöten menschlicher Gefühle. Was der Saalbau in seiner neuesten Produktion »No. 13: Schreie und Flüstern« nach Ingmar Bergman zeigt, ist alles andere als auf klassische Weihnachtsvorstellungen abgestimmt. Der Zeitpunkt aber ist gezielt gewählt, und das ist mutig. Denn Weihnachten ist das Fest der Familie, und Umgangsformen in Familien werden in dem Stück als gesellschaftlicher Krankheitsherd bloßgelegt.

Sind wir noch fähig zu menschlichen Zusammenkünften? Das ist die Frage, die Bergman in seinem Film stellt, und die das Schauspiel Neukölln vor den Weihnachtstagen zeigte und danach auf der Bühne wiederholt. Die Bühne ist karg, nur eine paar Stühle stehen herum. Der Raum, in dem die Handlung spielt, ist von weiß gefliesten Wänden umgeben. Vier Frauen stehen, sitzen und liegen schweigend da, jede für sich. Das Eingangsbild signalisiert, wohin die Inszenierung führen will. Zu den Orten in der menschlichen Psyche, wo aus vergrabenen Schmerzen immer wieder neues Leid entsteht. Das ist ein Abstieg in Beziehungsunfähigkeit. Regisseurin Julia Heymann nähert sich den Psychodramen analytisch-kühl. Sie seziert. Zum Vorschein kommen Mechanismen der Gefühlsabtötung, die so oft wiederholt werden, dass sie normal erscheinen.

Agnes leidet unheilbar an Krebs. Ihre Schwestern kommen mit ihren Männern ins Haus der gemeinsam verbrachten Kindheit. Die Todkranke lebt dort zurückgezogen mit dem Dienstmädchen Anna, von dem sie hingebungsvoll gepflegt wird. Als Agnes stirbt, zerbricht die fragile Statik der Beziehung zwischen den anderen zwei Schwestern: »Es ist alles nur ein Knäuel von Lügen!«

Die beiden können schon lange keine echten Gefühle mehr austauschen. Ihre wahren Probleme bleiben weit unterhalb der Benennbarkeitsgrenze, denn die vergrabenen Lügen, Enttäuschungen, Schuldgefühle und Aggressionen sind schon längst zu unauflösbaren Knoten geworden. Jeder zarte Versuch einer der beiden Schwestern, sich der anderen zu nähern, wird gehässig abgeblockt. Übrig bleiben Kälte, Hass und eine diffuse Sehnsucht nach Nähe.

Die Schauspieler Elisa Gelewski, Helen Kurkjian, Irene Holzfurtner, Tina Zaman, Nicolai Borger, David Bredin und Rüdiger Walter Kunze zeigen enormes Gespür für die inneren Zustände ihrer Protagonisten. Keine Reaktion ist überflüssig, die Gesten sparsam, jedes Wort sitzt. Nur eine Stunde dauert das Stück – eine lange und intensive Stunde.
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Zitty | 01.02.2004 | von Kerstin Decker

Schreie und Flüstern

Das Schauspiel Neukölln übt schon ziemlich lange und leise Kritik an den großen Regisseuren von Kaurismäki bis Bergman. Warum bloß brauchen die riesengroße Sets, eine Armee von Technikern, unbezahlbare Hauptdarsteller, wenn es auch anders geht? Auf einer, sagen wir mal, zehn-Quadratmeter-Bühne. Für die Darstellung von Klaustrophobie, Herr Bergman, braucht man gar keine einsamen Landsitze. Nicht mal eine Kamera.

Drei weiße und sehr klinisch geflieste Wände, etwas zusammengefegtes Herbstlaub dazu (so wie man ein Leben am Ende zusammenkehrt.) – alles fertig. Beste Voraussetzung für ein Bergmansches Drama der Innerlichkeit, das wie alle Bergman-Dramen immer wieder nur den einen Beweis führt: Das eigentliche Gefängnis des Manschen ist sein Leben. Und er ist grundsätzlich unerreichbar für seinen nächsten. Auch wenn er Schwestern hat. Gerade wenn er Schwestern hat.

Als Agnes auf ihrem zehn-Quadratmeter-Landsitz sterben wird. Kommen Maria und Karin. Aber sie sind diesem Sterben nicht gewachsen, sie sind ja nicht mal ihrem eigenen Leben gewachsen und dieser Wiederbegegnung erst recht nicht. Hellen Kurkjian, Elisa Gelewski und Tina Zaman geben ihnen Stimme, Hysterie, Angst und, ja, trotzdem: Liebe. Nach einer Stunde meint man, sie schon lange zu kennen. Wäre Ingmar Bergman eigentlich wie Regisseurin Julia Heymann mit einer Stunde ausgekommen? Kino auf der Bühne ohne eine Alibi-Leinwand.
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